Zum Besuch einer auswärtigen Berufsschule verpflichtete Berufsschüler haben Anspruch auf Erstattung der dadurch verursachten Mehrkosten einer notwendigen Unterbringung und Betreuung

Datum: 30.08.2016

Kurzbeschreibung: 


Das Land Baden-Württemberg ist verpflichtet, den zum Besuch einer auswärtigen Berufsschule verpflichteten Berufsschülern die dadurch verursachten Mehrkosten einer notwendigen Unterbringung und Betreuung hinreichend auszugleichen. Die Praxis des Landes, solchen Berufsschülern auf der Grundlage einer Verwaltungsvorschrift lediglich einen Zuschuss zu den Kosten für die auswärtige Unterkunft zu gewähren, ist mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes nicht vereinbar. Das hat der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit einem jetzt zugestellten Urteil vom 28. Juni 2016 entschieden und die Berufung des Landes (Beklagter) gegen das der Klage eines Berufsschülers (Kläger) stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart zurückgewiesen.

Der Kläger absolvierte vom 01.09.2009 bis 31.08.2012 eine Berufsausbildung im Ausbildungsbereich Gärtner/Garten- und Landschaftsbau bei einem Ausbildungsbetrieb im Landkreis Reutlingen, wo er auch wohnte. Da eine Fachschulklasse für den Ausbildungsberuf Gärtner/Garten- und Landschaftsbau im Landkreis Reutlingen (Regierungsbezirk Tübingen) nicht besteht, besuchte der Kläger seit dem Berufsschuljahr 2009/2010 eine landwirtschaftliche Berufsschule in Göppingen (Regierungsbezirk Stuttgart) und erfüllte dadurch seine Berufsschulpflicht. Zur Wahrnehmung der ca. 63 Blockschultage im Jahr musste der Kläger vor Ort untergebracht werden, da die Berufsschule in Göppingen von seinem Wohnort nicht schultäglich erreicht werden konnte. Die Unterbringung erfolgte in einem der Berufsschule zugeordneten, von einem freien Träger betriebenen Jugendwohnheim. Der Tagessatz betrug bis 31.03.2010 26,-- EUR bei voller Verpflegung und Betreuung, danach 29,-- EUR. Zu diesen Kosten erhielt der Kläger vom Land auf der Grundlage einer Verwaltungsvorschrift einen Zuschuss in Höhe von 6,-- EUR pro Blockschultag. Den auf Übernahme der nicht gedeckten Kosten gerichteten Antrag des Klägers lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart ab. Auf die hiergegen gerichtete Klage hob das Verwaltungsgericht Stuttgart den ablehnenden Bescheid auf und stellte fest, dass das beklagte Land dem Grunde nach verpflichtet ist, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts dem Kläger eine Erstattung der durch den Besuch des Blockunterrichts in der Berufsschule in Göppingen entstandenen Unterbringungs- und Betreuungskosten zu gewähren. Hiergegen wandte sich der Beklagte mit der Berufung.

Die Berufung hatte beim VGH keinen Erfolg. Der VGH hielt es für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, dass der Beklagte auf der Grundlage des § 79 Abs. 3 SchG die Pflicht des Klägers zum Besuch einer auswärtigen Berufsschule begründet, die dadurch verursachten Mehrkosten einer notwendigen Unterbringung und Betreuung aber nicht hinreichend ausgeglichen hat.

Würden Berufsschüler in Berufen mit geringer Zahl von Auszubildenden bzw. in sog. Splitterberufen, wie der Kläger, zum Besuch einer auswärtigen Berufsschule verpflichtet, würden diese gegenüber Berufsschülern, die ihre Berufsschulpflicht ausbildungsort- bzw. beschäftigungsortnah erfüllen, ungleich behandelt. Zwar habe die unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen im Hinblick auf die Schulbezirksbildung und die örtliche Erfüllung der Schulpflicht für sich genommen einen sachlichen Grund, nämlich die geringe Zahl von Auszubildenden in Splitterberufen. Daher sei die schulaufsichtsrechtliche Praxis, eine Berufsschulfachklasse im Interesse eines pädagogisch sinnvollen und ökonomisch vertretbaren Lehrereinsatzes erst ab mindestens 16 Berufsschülern pro Ausbildungsjahr einzurichten, nachvollziehbar. Auch trage das beklagte Land mit der Einrichtung solcher Fachklassen dem Interesse an einer qualitativ guten Ausbildung Rechnung. Indes komme diesen Gründen kein solches Gewicht zu, dass sie auch die unterschiedliche finanzielle Belastung der Berufsschüler rechtfertigten, die während der Zeit des BIockunterrichts auswärts wohnen müssen. Die Entscheidung des Auszubildenden für einen sog. Splitterberuf entspreche regelmäßig seiner Begabung oder Neigung. Die unterschiedliche Behandlung knüpfe damit an ein Persönlichkeitsmerkmal an, das vom Einzelnen tendenziell nicht oder jedenfalls nur eingeschränkt beeinflussbar sei. Der Betroffene habe wegen der staatlicherseits auferlegten Pflicht nicht die Möglichkeit, sich den Kosten der auswärtigen Unterbringung zu entziehen. Die Höhe der finanziellen Mehrbelastung mit Kosten in der Größenordnung von 3.000,00 EUR bis 4.000,00 EUR pro Ausbildung habe nicht unerhebliche Auswirkungen auf die grundrechtlich geschützte Freiheit der Wahl eines bestimmten Ausbildungsberufs. Die Belastung mit den Kosten der auswärtigen Unterbringung könne zudem eine abschreckende Wirkung insbesondere für Berufsschüler aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten haben.

Der Senat verkenne nicht, dass die Bildung überregionaler Fachklassen insbesondere auf die Initiative der Dachorganisationen der Ausbildungsbetriebe bzw. der nach dem Berufsbildungsgesetz für die Berufsbildung der Auszubildenden zuständigen Stellen (z.B. Handwerks- oder Industrie- und Handelskammern) zurückgehe und vor allem deren Bedürfnissen und Interessen entspreche. Der gleichheitswidrige Zustand beruhe jedoch maßgeblich auf einem Verhalten des Beklagten. Denn die - die Kostenmehrbelastung auslösende - Pflicht des Klägers zum Besuch der auswärtigen Berufsschule sei ausschließlich durch die auf § 79 Abs. 3 SchG gestützte Entscheidung der zuständigen Schulaufsichtsbehörde über die Einrichtung von überörtlichen Fachklassen und die Zuweisung des Klägers begründet worden, bei der ihr ein erheblicher Entscheidungsspielraum zustehe.

Das beklagte Land sei daher dem Grunde nach verpflichtet, die dem Kläger entstandenen Mehrkosten zu erstatten. Es könne dabei die wegen der auswärtigen Unterbringung ersparten Verpflegungsaufwendungen abziehen. Dem Land stünden verschiedene Berechnungsmöglichkeiten zur Verfügung, wie es diese Ersparnis für Frühstück-, Mittag- und Abendessen bestimme. Die konkrete Berechnung bleibe dem Beklagten überlassen.

Die Revision wurde nicht zugelassen. Gegen die Nichtzulassung der Revision kann binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eingelegt werden (Az.: 9 S 1906/14).

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